Juden und Christen: Das Alte Testament und die christliche Kirche

Juden und Christen: Das Alte Testament und die christliche Kirche
Juden und Christen: Das Alte Testament und die christliche Kirche
 
Die jüdische Bibel ist auch der erste Teil der christlichen Bibel geworden. Sie war die erste Bibel der jungen christlichen Kirche. Für das Urchristentum war diese Bibel nicht das »Alte Testament« im Sinne einer zweitrangigen oder gar veralteten Offenbarung. Auch als im 2. Jahrhundert die ab der Mitte des 1. Jahrhunderts nach und nach entstandenen spezifisch »christlichen« Evangelien und Apostelbriefe in der Kirche zur »Heiligen Schrift« wurden, traten die »neuen« heiligen Bücher nicht an die Stelle der Bibel Israels. Zwar gab es damals vereinzelte und entschieden vorgetragene Versuche, die jüdische Bibel zu verwerfen, weil sie für die christliche Identität nicht (mehr) relevant sei oder sogar im Gegensatz zur Botschaft Jesu stehe, doch hat die Kirche dieser »Entjudaisierung« ihrer Bibel widersprochen, wohl wissend, dass die jüdische Bibel das Fundament sowohl für die Gottesbotschaft Jesu als auch für das Bekenntnis zu Jesus dem Christus war und ist.
 
Als die Kirche ihre Heilige Schrift erweiterte, traf sie zwei wichtige Entscheidungen: Sie stellte die »neuen« Schriften nicht vor, sondern hinter die Bibel Israels; so entstand die eine, zweigeteilte christliche Bibel. Und sie griff auch nicht in den jüdischen Wortlaut des ersten Teils ein. Dass die Kirche die jüdische Bibel in dieser Form in ihrer eigenen Bibel beibehielt, entsprach der in den neutestamentlichen Schriften selbst und in den Glaubensbekenntnissen der Alten Kirche sich aussprechenden Überzeugung, dass die jüdische Bibel das unaufgebbare Fundament des Christentums ist. Bei aller Polemik, die sich im jungen. Christentum gegen die jüdische Mehrheit entwickelte, die seinen Weg nicht gehen wollte, hielten die neutestamentlichen Autoren auch nach der Tempelzerstörung (70 n. Chr.), wie es scheint noch entschiedener als zuvor, daran fest: Christliche Identität gibt es nur, auch für das Heidenchristentum, in der bleibenden Rückbindung an das Judentum, an die jüdische Kultur und insbesondere an das Alte Testament. Selbst als faktisch aus vielfältigen Gründen die Brücken zwischen Kirche und »Synagoge« abgebrochen wurden, blieb die Kirche, auch wenn es ihr offensichtlich schwer fiel, dabei: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Römer 11,18).
 
Das Alte Testament als erster Teil der christlichen Bibel ist demnach im heutigen christlichen Verständnis nicht, wie oft gesagt wird, Vorbereitung oder Vorankündigung des Neuen Testaments, sondern will als Eigenwort mit Eigenwert gelesen werden. Zwischen beiden Teilen der zweieinen christlichen Bibel besteht ein spannungsreicher Dialog, der die christlichen Kirchen fortwährend an ihre Verwurzelung im Judentum erinnert. Angeregt von dieser neuen theologischen Wertung des »Alten Testaments« durch die Kirchen, die in den letzten Jahrzehnten - auch in Auseinandersetzung mit der kirchlichen Mitschuld am Holocaust während der nationalsozialistischen Herrschaft - gewachsen ist, wurde vorgeschlagen, die missverständliche Bezeichnung »Altes Testament« durch »Erstes Testament« oder durch »Hebräische Bibel« zu ersetzen.
 
In seiner Endgestalt gehört das Alte Testament zu den großen Werken der Weltliteratur und hat als solches die Weltkultur inspiriert, wie seine vielfältige Rezeption in Kunst, Musik und Literatur bis in die Moderne zeigt. Mit seiner ethischen Botschaft der Zehn Gebote und der schöpfungstheologisch begründeten Idee von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen, aber auch mit dem in den prophetischen Büchern festgeschriebenen Kampf für soziale Gerechtigkeit und seinen Visionen von einem universalen Menschheitsfrieden war das Alte Testament, wenn auch oft mit weltlichen Augen gelesen, eine motivierende Kraft beim Einsatz für die Menschen- und Bürgerrechte. Mit seinen messianischen Vorstellungen vom Kommen einer besseren Welt, die als Kritik am Bestehenden und zukunftweisend als Utopie für gesellschaftliche Reformen konzipiert waren und weiterhin gültig sind, ist die jüdische Bibel - das Erste Testament - ein Kulturdokument humanitärer und sozialer Programmatik ersten Ranges. In dieser Funktion ist die Bibel Spiegel der Welt und ihr Gegenbild zugleich.
 
Prof. Dr. Erich Zenger

Universal-Lexikon. 2012.

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